Kirchen in Bad Kissingen

Russisch-Orthodoxe Kirche in Bad Kissingen

Sebastian Schön

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Russisch-orthodoxe Kirche

Russisch-orthodoxe Kirche

Eigentlich hätte die Russische Kirche in Bad Kissingen ein kaiserlicher Prunkbau werden sollen. Als Kaiser Alexander II. 1857 in Bad Kissingen zur Kur erwartet wurde, wollte man ihm ein Grundstück für den Bau einer orthodoxen Kirche schenken. Doch kam die Kur nicht zustande, und die Russische Gesandtschaft in München zog die Schenkungsurkunde mit höflichen Dankbezeugungen zurück. In Sankt Petersburg war man offensichtlich nicht bereit, im fernen Bayern einen Kirchenbau aus der russischen Staatskasse oder aus der Privatschatulle der Kaiserfamilie zu finanzieren. 1864 und 1868 weilte zwar Kaiser Alexander 11. tatsächlich zur Kur in Kissingen, aber vom Bau einer russischen Kirche sprach niemand mehr. Stattdessen wurde in den Privatgemächern des russischen Kaiserpaars im Hotel eine provisorische Hauskapelle eingerichtet.

Angesichts der wachsenden Zahl russischer Kurgäste sah sich die Kurverwaltung Bad Kissingen veranlasst, alljährlich in den Sommermonaten im Casino einen Raum für die Abhaltung orthodoxer Gottesdienste bereitzustellen. Erneut erhob sich daher seit den siebziger Jahren des 19.Jahrhunderts die Frage eines Kirchenbaus. 1897 kam der Vorsteher der russischen Botschaftskirche in Berlin nach Kissingen, um hier für russische Kurgäste Gottesdienste zu halten. Er nahm den Bau einer russischen Kirche in Kissingen fortan in seine Hand. Der Petersburger Hofarchitekt Victor von Schroeter, der ebenfalls zu den jährlichen Kurgästen Kissingens zählte, erklärte sich bereit, unentgeltlich den Entwurf der Kirche auszuarbeiten. Vom Metropoliten von St. Petersburg Palladij, dessen Jurisdiktion die russischen Kirchen im Ausland unterstanden, erwirkte Erzpriester Maltzew die Genehmigung, Spendensammlungen in Russland und im Ausland durchzuführen. Für den Vorsitz im Baukomitee konnte der kaiserlich-russische Gesandte am bayerischen Hof Alexander Iswolskij gewonnen werden. Am 7. August 1897 wurde der Kaufvertrag über das Grundstück über 18.000 Mark abgeschlossen, auf dem die Kirche heute steht. Es wurde bis 1899 durch den Kauf des hinter der Kirche liegenden Geländes zum Preis von 2.400 Mark vergrößert, damit die freie Lage der Kirche auch in Zukunft nicht verbaut werden konnte. Von Schroeters Entwurf wurde am 9.Februar 1898 vom Metropoliten Palladij von St. Petersburg gutgeheißen und bestätigt. Am 12.Juni des gleichen Jahres erteilte der Metropolit die kirchliche Baugenehmigung in Form einer Segnungs-Urkunde.

Die Grundsteinlegung vollzog am 20. Juli 1898 der in Kissingen zur Kur weilende Metropolit von Rumänien, Josef Gheorgian. Am 18. Juli 1901 wurde die Kirche vom gleichen Metropoliten unter Mitwirkung russischer Priester aus Berlin und Stuttgart geweiht.

Obschon die Kunde von der Heilwirkung der Kissinger Quellen bereits durch den Brückenauer Badearzt Melchior Weikard nach Russland gelangt war konnten bei einer Anreisezeit von sechs Wochen von Petersburg oder Moskau nach Bad Kissingen nur sehr wenige Russen zu einem Kuraufenthalt nach Kissingen kommen. Eine radikale Änderung fand nach dem Bau durchgehender Eisenbahnverbindungen in den 1860er Jahren statt. Was die orthodoxen Russen anbetrifft, die regelmäßig nach Kissingen kamen, so gehörten sie keineswegs zu den besonders begüterten oder privilegierten Schichten des Zarenreiches. Angehörige des Hochadels zog es eher nach Baden Baden oder nach Nizza. Aus dem Benutzerverzeichnis der Bibliothek der russischen Kirche geht hervor, dass es sich bei den russischen Kurgästen in Kissingen zumeist um Vertreter der "gehobenen" und weniger gehobenen Mittelschicht handelte: Universitätsdozenten, Gymnasiallehrer höhere Post- und Bahnbeamte, Richter, Ingenieure, Geschäftsleute aus Moskau, Sankt Petersburg, Odessa, Charkow, Astrachan, Tomsk und in einem Falle sogar aus Wladiwostok. Auch die Namen von Graf Leo Tolstoj und der Komponisten Michael Glinka und Alexander Glasunow finden sich in den Gästelisten Kissinger Hotels.

Die russischen Kirchen im Hessischen können sich jeweils an mehrere Besuche durch Kaiser Nikolai II. und seine Familie erinnern. Eine solche Ehre ist der Kirche in Bad Kissingen nicht zuteil geworden. Doch darf sie vier Angehörige des russischen Kaiserhauses, zu ihren regelmäßigen Kirchgängern rechnen: Großfürst Pawel Alexandrowitsch - jüngster Sohn Kaiser Alexander II., besuchte die Kissinger Kirche in den Jahren 1903-1911 mit seiner Ehefrau Fürstin Palej und Sohn Wladimir. In den Annalen der Kirche ist festgehalten, dass sie 1909 am Fest der Apostel Peter und Paul (Namenstag des Großfürsten) der feierlichen Liturgie beiwohnten. Fürst Wladimir Palej wurde im Ersten Weltkrieg Offizier. Großfürst Georgij Michajlowitsch Romanow erwies sich als ein besonders eifriger Kirchgänger. Als er in Kissingen weilte, besuchte er die Kirche nicht nur zur jeweiligen Liturgiefeier (Eucharistiefeier) an Sonn- und Feiertagen, sondern auch zur Vesper am Vorabend. In der Kursaison 1913 kam auch Großfürst Michail Alexandrowitsch (der jüngere Bruder des Zaren Nikolai II.) nach Bad Kissingen und nahm an allen Gottesdiensten zwischen dem 19. August und 7. September 1913 teil.

Mit der deutschen Kriegserklärung an Russland am 1. August 1914 änderte sich auch das Schicksal der russischen Kirche in Kissingen. Um der Internierungshaft zu entgehen, mussten alle russischen Staatsangehörigen, einschließlich der Kurgäste, Hals über Kopf Deutschland verlassen. Alle russischen Priester wurden ausgewiesen, die Kirchen geschlossen und unter Zwangsverwaltung gestellt, ihr Vermögen eingezogen, ihre Glocken beschlagnahmt und eingeschmolzen.

Nach Ende des Ersten Weltkrieges erfuhr das russische kirchliche Leben, auch in Kissingen, eine bescheidene Wiederbelebung. Am 10. Juni 1921 zelebrierte der für die russischen Gemeinden in Westeuropa zuständige Erzbischof Jewlogij in der Kissinger Kirche die erste Liturgie nach dem Kriege. Er ernannte den Priester Nikolai Baer zum Pfarrer in Kissingenn um den sich eine kleine Gemeinde von etwa 15 Emigranten scharte. Erzbischof Jewlogij weilte selbst gern in Bad Kissingen (1922-1925), bis ihm 1926 die Spaltung der Exilkirche und die Abtrennung der Deutschlanddiözese von seinem Administrationsbereich diese Möglichkeit nahm.

Da auch Pfarrer Baer Kissingen verließ, konnten seitdem nur sporadisch Gottesdienste abgehalten werden. Die Funktion eines Kustos der Kirche übernahm der letzte kaiserlich-russische Konsul in Königsberg Wassilij Wassiljewitsch Olferjew. Der neue Bischof von Berlin und Deutschland Tichon (Ljastschenko) verbrachte den August 1928 in Kissingen und bemühte sich seither um einen ständigen Pfarrer für die Kirchen deren Einnahmen jedoch für den Unterhalt eines Geistlichen nicht reichten. 1929 und 1930 zelebrierte jeweils während der Saison Protopresbyter Terentij Teodorowitsch aus Warschau in Bad Kissingen. Die Kur in Kissingen war für Emigranten unerschwinglich geworden, es kamen kaum noch orthodoxe Russen zu den Gottesdiensten. 1931-1937 wurden in der Kirche überhaupt keine Gottesdienste gehalten.

1938 erfolgte ein neuer Anlauf, als Metropolit Seraphim (Lade) dem bereits zum Priester geweihten Theologiestudenten Andrej Lowtschijn mit dem Mönchsnamen Alexander die Seelsorge "in München und in den Kirchen Bayerns" übertrug. Dieser reiste nun jedes Jahr im August nach Kissingen, doch blieb die Besucherzahl in den Gottesdiensten weit unter den Erwartungen. Daran änderte sich auch in den ersten Jahren des Zweiten Weltkrieges nichts, obwohl Millionen Russen in Kriegsgefangenenlagern festgehalten wurden (so auch im nahen Hammelburg) oder als "Ostarbeiter" Zwangsarbeit leisteten. Die Gestapo verbot ihnen jeglichen Kirchenbesuch und versuchte sogar, die orthodoxen Pfarrer dazu anzuhalten, "Ostarbeitern" den Zutritt in ihre jeweiligen Kirchen zu verwehren. Nach Kriegsende schickte Metropolit Seraphim den gerade erst aus der Gestapohaft befreiten Erzpriester Alexander Bogatschow nach Kissingen. Ihm schlossen sich weitere Priester an, so dass sich schließlich über 15 Geistliche in Kissingen versammelten. Dem feierlichen Ostergottesdienst am 6. Mai 1945 in der überfüllten Kissinger Kirche wohnten Prinz Louis Ferdinand von Preußen und seine russische Gemahlin Prinzessin Kira bei. Nach und nach entwickelte sich in Kissingen ein Gemeindeleben. Ein Gemeinderat wurde im Februar 1946 gewählt. Im Oktober 1948 konnte die Ausmalung der Kirche restauriert werden. Schon 1946 begann die Umsiedlung der "displaced persons" in die verschiedenen Aufnahmeländer. 1950 waren die meisten Mitglieder der Kissinger Gemeinde nach Amerika ausgewandert. Der letzte ständige Pfarrer der in Kissingen auch lebte, war Erzpriester Michail Sagorjanskij. Er wirkte hier vom 1. Juni 1951 bis zu seinem (und seiner Ehefrau) Abgang ins Altenheim Darmstadt, wo er am 17. August 1973 verstarb. Er wurde auf dem russischen Friedhof in Wiesbaden beigesetzt.

Die Bruderschaft des Heiligen Fürsten Wladimir verlegte nach dem Zweiten Weltkrieg ihren Vereinssitz von Berlin nach Bad Kissingen und bemühte sich auch nach dem Abgang des letzten ständigen Priesters, Gottesdienste in Kissingen abzuhalten, die meist von Bischof (später Erzbischof Nathanael (Lwow) aus München oder Erzbischof Filofej (Narko) aus Hamburg zelebriert wurden. Eine Zeitlang wirkte der katholische St. Sergius Chor aus Schweinfurt regelmäßig an diesen Gottesdiensten mit.

Seit dem Ende des "Kalten Krieges" und dem Beginn der "Perestrojka" strömten Hunderttausende von deutschstämmigen Aussiedlern nach Deutschland. Unter den Familienangehörigen der Russlanddeutschen sind viele Orthodoxe anzutreffen.

Die Bruderschaft ist bemüht, diese Orthodoxen im Großraum von Kissingen zu einer Gemeinde zusammenzufassen. Außerdem ist damit zu rechnen, dass auch Bürger des neuen Russland, die es inzwischen zu Wohlstand gebracht haben, in wachsender Zahl zur Kur oder zur Erholung nach Kissingen kommen werden, wie das vor 1914 geschah. Das gibt der Bruderschaft die Hoffnung, dass ihre Kirche des Heiligen Sergij kein reines Besichtigungsobjekt wird, sondern sich erneut zu einem Ort des Gebets und intensiven Geisteslebens entwickelt. Die Geschichte Kissingens und seiner Russen ist nicht zu Ende. Sie geht in eine neue Phase über, die, wie wir wohl alle hoffen, weniger dramatisch sein und die Völker Deutschlands und Russlands einander wieder näher bringen wird.

(Entnommen: G. Rahr, "Hundert Jahre Russische Kirche Bad Kissingen", Bad Kissingen 1999).

Sebastian Schön

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Sebastian Schön ist aus dem hohen Norden, aber die Liebe hat ihn in den Süden verschlagen. Obst und getrocknetes Obst sind OK, aber Wein ist sein Lebenselexier. Er ist ein wandelndes Weinlexikon und deshalb bei uns für Unterfranken zuständig.